Ein Mythos: Die Wiener Staatsoper – das Haus am Ring – ist 150 Jahre
Gastbeitrag von Prof. Hans Werner Scheidl
„O Gott, welch ein Augenblick!“ Ältere Österreicher haben diesen Ausruf noch im Ohr, der am 5. November 1955 vormittags aus dem Radio drang. Es war der weltberühmte Dirigent Karl Böhm, der als Direktor der wiederaufgebauten Wiener Staatsoper mit diesem Zitat aus Beethovens „Fidelio“ offiziell die Schlüssel des wieder errichteten Hauses am Ring übernahm.
Beitrag von Herbst 2019
In einem Festakt hatte das „offizielle Österreich“ sich selbst und den Aufbau- und Opferwillen der Menschen gefeiert. Ein Kraftakt, der uns Bewunderung abringt: Aus einer Bombenruine erstand in nur wenigen Jahren das Opernhaus prächtiger, als es vor seinem Untergang war. Als 1945 die Waffen ruhten und die Österreicher in Bombenlöchern hausten, war überlegt worden, die Ruine völlig wegzuschieben. Aber der damalige Bundeskanzler Leopold Figl entschied richtig, den Wienern dieses unersetzliche Kulturdenkmal zurückzugeben. So wie den Stephansdom: Um jeden Preis! Von 1948 bis 1955 dauerte die Rekonstruktion unter extremen Bedingungen: Es mangelte an Baumaterial, an Arbeitern, an kundigen Professionisten, von effizienten Maschinen konnte gar keine Rede sein. Außer der Fassade und dem Schwindt-Foyer an der Ringstraße war so gut wie nichts mehr vorhanden. Aber der Architekt Erich Boltenstern „managte“ mit etwa hundert Ingenieuren und 500 Arbeitern diese Herausforderung bravourös.
So konnte am Abend dieses historischen 9. Novembers 1955 die Galapremiere von „Fidelio“ stattfinden. Wer Rang und Namen hatte (und zudem ein bisschen Kleingeld), zahlte für diesen Abend gern fünftausend Schilling. Wer nichts davon besaß, lauschte vor dem Radioapparat der Direktübertragung. Es war auch für mich als damals elfjähriger Bub ein berührendes Erlebnis.
DIE "K.U.K.-Hofoper": EIN HAUS VON WELTGELTUNG
Die Wiener Staatsoper, vormals von 1869 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die „k.u.k.-Hofoper“: Ein Mythos. Viel mehr als nur einer dieser prachtvollen Paläste, die die Ringstraße säumen. Ein Haus, das Weltgeltung besitzt und von den Steuerzahlern geschätzt und geliebt wird. Auch von denen, die noch nie in ihrem Leben das Gebäude betreten haben. Und das auch in Hinkunft gar nicht vorhaben.
So war das schon im „ersten Leben“ dieses Hauses, das nach überraschend kurzer Bauzeit als erster Repräsentationsbau 1869 eröffnet werden konnte. Der Architekturhistoriker Dipl.-Ing. Dr. Harald Stühlinger, der in Luzern lehrt, hat die Vorgeschichte der Ringstraßenplanung akribisch erforscht und seine Erkenntnisse 2014 ausgeführt. Nachdem der „Minister des Innern“, Alexander Freiherr von Bach, dem jungen Kaiser Franz Joseph den Plan der Stadterweiterung schmackhaft gemacht hatte, begann ab 1857 ein wilder Kampf jeder gegen jeden um die besten Bauparzellen und die lukrativsten Aufträge. Die Wiener Eduard Van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, beide Architekturprofessoren an der Akademie, erhielten den Zuschlag für das gigantische Projekt einer Hofoper, ließen ihre Lehraufträge ruhen und stürzten sich auf ihr Werk.
DIE HOFOPER ALS EINE "VERSUNKENE KISTE"
Das Bauprojekt freilich war von Beginn an mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Die Richtung der Architektur veränderte sich in dieser Zeit hin zu einer reinen Stilarchitektur, weshalb der Entwurf der beiden Architekten, der Elemente der französischen wie auch der italienischen Renaissance miteinander verband, als „Stilmischmasch“ abgelehnt wurde, wie ein Spottvers der Wiener damals besagte: „Der Sicardsburg und van der Nüll, die haben beide keinen Styl! Griechisch, gotisch, Renaissance, das ist denen alles ans!“ Dazu kam leider auch noch eine Anhebung des Straßenniveaus. Das verschlechterte die Proportionen des Gebäudes, „die versunkene Kiste“ wurde die Hofoper fortan von manch kritischem Wiener genannt. Dafür konnten die unglücklichen Erbauer nichts, aber sie waren den ständigen öffentlichen Anfeindungen nicht gewachsen. Der 56-jährige Van der Nüll erhängte sich am 4. April 1868 in seiner Wohnung in der Windmühlgasse. Zwei Monate später brach Sicardsburg nach einem Herzschlag über seinem Zeichentisch tot zusammen. Er konnte den Selbstmord des Freundes nicht verwinden.
So erlebten sie den nachträglichen Triumph nicht mehr. Am 27. Mai 1869 berichtete die damals führende „Neue Freie Presse“ von der Eröffnung des neuen Opernhauses, die zwei Tage zuvor mit „Don Juan“ in Anwesenheit des Monarchen stattgefunden hatte. Und sie führte aus, welche Qualen Besucher der alten Oper am Kärntnertor erdulden mussten: „Enge Treppen, schmale Sitze, Parterre-Logen, die an Gefängniszellen erinnerten, eine Bühne ohne Tiefe, Garderoben, in welchen nur der Anstand des Publicums homerische Kämpfe vermeiden konnte, endlich gar kein Foyer, nicht einen einzigen Raum, in dem man sich ungestört aufhalten konnte.“ Das alles war nun vorbei.
Nur ein Detail störte den ungenannten Berichterstatter: „Daß hier die gegenüberstehende Riesen-Ziegelburg Drasche‘s auf das Theater drückt, ist wol wahr, aber dafür können die Architekten nichts. Sie konnten nicht voraussetzen, daß gegenüber ein solches Monsterhaus aufgeführt werden würde, noch weniger konnten sie der Ueberhöhung wegen aus dem Opernhause einen babylonischen Turm machen“. Der Heinrichhof gegenüber der Oper, benannt nach dem reichsten Ziegelfabrikanten der Monarchie, Heinrich Drasche-Wartinberg, war das damals größte und prächtigste Zinshaus Wiens. Es wurde im Zweiten Weltkrieg so wie die Oper zerstört und 1954 abgerissen. Doch was tun? Es gab damals so etwas wie eine erste Bürgerinitiative, die auf der Brachfläche einen Park wollte, um das Opernhaus besser zur Geltung zu bringen. Das Profitdenken setzte sich aber letztlich durch, so erhebt sich heute dort der neue Heinrichhof, ein einfallsloser Bürokomplex.
Was haben diese beiden Gebäude alles gesehen?
Was neu, prominent, schrill, aber auch ganz feierlich war - hier mussten sie alle vorbei, die Prozessionen, Demonstrationen, Leichenbegängnisse, Paraden, Schweigemärsche. Ja, an diesem markanten Ort an der prächtigen Wiener Ringstraße bündelte sich das gesellschaftliche und politische Leben der Stadt. Gleich am Eck des Lederwarenhändlers Sirk promentierte „toute Vienne“, bis der Erste Weltkrieg dem Treiben ein blutiges Ende bereitete. Auch an der Hinterseite, im Hotel Sacher, erstarb 1918 das dekadente Gesellschaftsleben mit einem Schlage.
Vorn, wo die beiden Architekten ein luftiges Foyer im ersten Stock gebaut hatten, hatte man den besten Blick auf die großen Ereignisse in dieser Stadt. Besonders bunt wird wohl jener merkwürdige Festzug gewesen sein, den die Gemeinde Wien zu Ehren des „silbernen“ Hochzeitspaares, Kaiser Franz Joseph und Gemahlin Elisabeth, am 27. April 1879 durchführen ließ. Und zwar - quasi als Generalunternehmer und künstlerischer Leiter - vom Malerfürsten seiner Zeit, Franz Makart. Das Fest musste wegen Schlechtwetters um zwei Tage verschoben werden, aber dann war es so weit. Und die Wiener Hofoper sah einen historischen Kostüm- Festzug vorüberziehen, der in die Annalen der Stadt eingegangen ist. Makart, der Richard Wagner verehrte und die „Meistersinger“ gut kannte, hielt sich an Albrecht Dürers Vorbilder und stellte einen Zug zusammen, der alle Zünfte, alle Gewerbetreibenden, alle Stände seiner Zeit auf prachtvolle Wagen und in mittelalterliche Kleidung zwang. „Sein eigener Auftritt am Ende des Zuges“, schreibt der Schriftsteller Franz Endler, „ war von genau kalkulierter Theatralik: allein, hoch zu Ross, zog er den Beifall seines Kaisers und der Wiener auf sich.“
So zahlreich wohl die Menschenmassen bei anderen Demonstrationen auch gewesen sein mögen, einen prächtigeren Festzug wird die Oper sicher nie mehr gesehen haben. Sie ist am Vormittag des 12. März 1945 von amerika-ischen Bombern in Schutt und Asche gelegt worden, 90 Minuten lang hatten diese 1667 Tonnen ihrer tödlichen Fracht über Wien abgeworfen. Doch sie ist wiedererstanden. Die Wiener haben eifrig dafür gespendet. In einer Zeit, als das Geld knapp war. Umso mehr müssen wir Heutigen jenen Menschen Respekt zollen, die diesen Wiederaufbau geschafft haben.
Zur Person
Prof. Hans Werner Scheidl arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.