Die Wiener Ringstraße – ein städtebauliches Meisterwerk feiert 150-jähriges Jubiläum der Eröffnung
Gastbeitrag von Dr. Harald Stühlinger
Nachdem Paris, die vielbeschworene Hauptstadt des 19. Jahrhunderts1, ab 1853 vorgemacht hatte, wie man durch radikale Straßendurchbrüche repräsentative Straßen und Avenuen anlegt, geschah in Wien eine städtebauliche Besonderheit.
Beitrag von Herbst 2014
Aufgrund der konservativen Haltung des Militärs und des Kaiserhauses bis zur und besonders nach der Revolution von 1848, bestanden bis 1858 die barocken Befestigungsanlagen2, sowie ein bis zu 300 Meter breites, unbebautes Schussfeld – das Glacis –, das von der Stadtmauer bis zu den Vorstädten reichte. Als es Ende 1857 beschlossene Sache war die Fortifikation zu demolieren, den Mauergraben einzuebnen und auf dem ehemaligen Glacis ein Stück Stadt zu errichten, wurde für Wien ein architektonischer und städtebaulicher Prozess in Gang gesetzt, der zur Initialzündung für die Großstadtwerdung Wiens wurde.
Der am 1. September 1859 erstmals von Kaiser Franz Josef I. angenommene Plan für die Erweiterung der inneren Stadt Wien musste im Ministerium des Innern noch einmal überarbeitet werden, bevor er die endgültige kaiserliche Zustimmung am 8. Oktober desselben Jahres erhielt. Innerhalb der fünf Jahrzehnte, die die Realisierung dieses Großprojektes in Anspruch nahm, wurde der Plan mehrmals, auch massiv, abgeändert. Der sehr große Originalplan wurde Anfang Oktober 1859 im Wiener Stadtbauamt der Öffentlichkeit präsentiert. Das vorliegende Blatt entstammt einer Serie, die als Gabe der Armenlotterie ausgegeben wurde, welche damals zu Jahresbeginn stattfand.
GROSSARTIGE VISIONEN, EINZIGARTIGE IDEEN
Hinter dem Entschluss der umfassenden Stadterweiterung die Bahn zu brechen, stand nicht nur der Souverän, Kaiser Franz Josef I., sondern auch ein hoher Staatsbeamter. Der Minister des Innern, Alexander Freiherr von Bach, machte die Idee einer Stadterweiterung3 beim Kaiser beliebt, und dieser verwandelte am 20. Dezember 1857 mit einem Federstrich4 die nicht sehr ansehnliche aber große unbebaute Fläche in hochpreisiges Stadtentwicklungsgebiet in bester Lage. Im Handschreiben wurden bereits die Planfindung durch einen Wettbewerb sowie die Grundelemente der Bebauung festgelegt. Dabei legte man trotz größtmöglicher ökonomischer Ausnutzung des Baugrundes – für die Abwicklung der Grundstücksverkäufe rief man den Stadterweiterungsfonds ins Leben – besonderen Wert auf die Schaffung von Plätzen und öffentlichen Parkanlagen.
Ab 31. Jänner 18585 lief der erste öffentliche, internationale, städtebauliche Wettbewerb an um zu einem umsetzbaren Plan zu gelangen und noch während des Wettstreits, begannen die ersten Demolierungsarbeiten an der Stadtmauer entlang des Donaukanals6. Die dort neu geschaffene Straße wurde nach nur vier Wochen zügigster Arbeit am 1. Mai 1858 eröffnet, wobei man den anwesenden Kaiser bat, diese Straße nach ihn benennen zu dürfen. Erst dieser Franz Josefs-Kai schloss die später angelegte Prachtstraße zu einem vollständigen Ring. Da Minister von Bach die unbedingte Oberhoheit über diesen wichtigen Stadtumbau behalten wollte, wurde das Duo August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, Ludwig Förster sowie Friedrich Stache zu gleichwertigen Siegern erkoren, und sodann in eine Kommission mit Ingenieuren, Kunstverständigen und Vertretern des Hofes, des Staates sowie des Magistrats berufen, um schließlich einen endgültigen Masterplan zu erarbeiten.
Dass die Ringstraße zu Beginn eine staatliche Unternehmung war, bei der es vornehmlich um die Demonstration des Staates und des Kaiserhauses in der Reichshauptstadt ging, zeigt der Umstand, dass keine andere europäische Straße entlang ihres Verlaufes eine derartige Ansammlung von monumentalen Repräsentationsbauten bietet. Daneben wurde ein insgesamt 86 ha großes Terrain in Baugrundstücke parzelliert und eine gründerzeitliche Stadt kreiert, die ihresgleichen sucht. Durch den Repräsentationsdrang der Bauherren aus Adel, aber vielmehr noch aus dem Bürgertum, konnte das staatliche Bauvorhaben erst finanziert werden, denn die Erlöse aus den Grundstücksverkäufen, die für Hof- und Staatsbauten verwendet wurden, flossen unmittelbar in den Stadterweiterungsfonds.
Innerhalb von vier Wochen wurde eine lange Breche in die Stadtmauer am Donaukanal geschlagen, der Boden eingeebnet und gepflastert. Auf der alljährlichen, am 1. Mai stattfindenden, ersten Fahrt des Kaiserhauses in den Prater, hielt der Kaiser bei dem erkennbaren Festzelt an, und bekam in einem Album zwei großformatige Fotografien, die die Stadtmauer vor und während der Demolierung zeigten.
DIE RINGSTRASSENZONE: EINE MISCHUNG AUS MONOMENTALEN STAATSBAUTEN, HARMONISCHEN ENSEMBLES UND ATTRAKTIVEN WOHNQUARTIEREN
Alsbald wurde im Anschluss an den Franz Josefs-Kai der Rudolfsplatz angelegt sowie mit der Aussteckung der Ringstraße auf dem Glacis begonnen und entlang des Kärntnerrings die ersten Bauten erstellt. Mit dem Schwarzenbergplatz entstand das erste Ensemble, welches um das Reiterstandbild für Fürst Karl Philipp von Schwarzenberg angelegt wurde. Um eine vollkommen einheitliche Fassung für das Denkmal zu gewährleisten, wurde die architektonische Gestaltung Heinrich Ferstel, dem Erbauer der Votivkirche, übertragen. Nachdem Sicardsburg und van der Nüll auch den Wettbewerb zum k. k. Hofoperntheater gewonnen hatten und das Gebäude ab 1861 realisierten, wurde Theophil Hansen7 die Planung für einen gesamten Baublock gegenüber der Hofoper übergeben. Der nach dem Besitzer der Wienerberger Ziegelwerke benannte Heinrichhof wurde zum Vorbild für weitere Miethausbauten der Ringstraßenzone.
Entlang des Kärntner- und Burgrings entstanden Palais und Zinsbauten von Ludwig Förster, Johann Romano und August Schwendenwein, Ferdinand Fellner d. Ä., Carl Tietz, Anton Oelzelt und Franz Xaver Fröhlich, wie auch ansehnliche Wohnbauten von weniger bekannten Planern, wie etwa Ludwig Zettl, Josef Hlavka, Ferdinand Schlaf, Theodor Neumayer, Julius Dörfel, Eduard Kaiser8 u. v. m. Nach weniger als fünf Jahren Bauzeit und auf den Tag genau sieben Jahre nach der Eröffnung des Kaiser Franz Josef-Kais, wurde am 1. Mai 1865 der Straßenzug vom Schwarzenbergplatz bis zum Burgtor als Ringstraße feierlich der Öffentlichkeit übergeben.
Mit dem Beschluss den Exerzierplatz am Glacis aufzugeben und ihn stattdessen zu verbauen, erhielt die Wiener Ringstraßenzone ein Ensemble von maßstabssprengendem Ausmaß. Obschon es einen Plan für eine monozentrale Anlage9 gab, richteten schlussendlich alle vier Monumentalbauten10 ihre Hauptfassaden zur Ringstraße aus und huldigten so baulich der Prachtstraße. Mit 103,3 m (Turmhöhe 98 m) überragt der Rathausmann auf dem Rathaus sämtliche Bauten der Ringstraßenzone, sogar die 99 m hohe Doppelturmfassade der Votivkirche. Etwa zur gleichen Zeit wie die Verbauung des Exerzierplatzes begannen die Arbeiten am Kaiserforum – dessen Konzeption von Gottfried Semper stammte und dem der Wiener Architekt Carl von Hasenauer zu Seite gestellt wurde –, die jedoch erst in der Ersten Republik beendet wurden. Das letzte große zusammenhängende Quartier entstand nach der Jahrhundertwende im Nachklang des Wettbewerbes zum Generalregulierungsplan von 1892/93 und dem Entschluss die Kaiser Franz Josefs-Kaserne abzureißen und an ihrer statt ein Ensemble um das k. k. Postsparkassenamtsgebäude von Otto Wagner zu errichten. Diesem gegenüber errichtete kurz vor dem Ersten Weltkrieg Ludwig Baumann, der auch an der Neuen Hofburg mitgeplant hatte, das k. k. Kriegsministerium, womit die Bautätigkeit in der Ringstraßenzone vorerst abgeschlossen war.
Der erfahrene Architekt und Selbstvermarkter Förster legte den geforderten Wettbewerbsplänen noch andere interessante Planzeichnungen, wie auch fünf sehr schön gemalte Aquarelle bei, wovon das gezeigte einen genauen Blick auf seine architektonischen Vorstellungen der Bauten entlang der Ringstraße erlaubt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Förster den Haupteingang seiner Oper nicht zur Ringstraße, sondern zur Kärntnerstraße ausrichtet. Vor dem Hintergrund der heutigen Situation, bei der der Musentempel keinen entsprechend großen Vorplatz besitzt, wäre eine derartige Lösung nicht unvorteilhaft gewesen.
DAS GESAMTKUNSTWERK RINGSTRASSE
Die Ringstraße ist das gebaute Manifest des Historismus schlechthin, doch da Stadt stets einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen ist, finden sich neben all den historistischen Monumenten, Zinspalais und -häuser auch Implantate vom Jugendstil bis zur Moderne und Nachmoderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte man die Kriegsbeschädigungen, um Hausruinen und ungenutzte Markthallen abzutragen und durch moderne Bauten zu ersetzen, Verkehrsbauten und erste Hochhäuser sowie Hotelbauten zu errichten und durch die neuen technischen Anforderungen massiv in die Ringstraßenzone einzugreifen.
Die Renaissance der Innenstädte ab den 1970er Jahren und der Boom Wiens, der zeitverzögert mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eingeläutet wurde, brachte nicht nur städtebauliche Veränderungen am Stadtrand und auf ehemaligen, zentrumsnahen Industrie- und Bahnhofsflächen mit sich, sondern ließ die innere Stadt wieder in den Blickpunkt der Stadtentwicklung rücken. Umnutzungen, Aufstockungen und Ersatzneubauten waren die Folge dieser gesteigerten Nachfrage an repräsentativem Büroraum und noblen Wohnadressen.
Bei den größeren Eingriffen, die im Moment zur Debatte stehen, wird es stets notwendig sein, sich der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten der Ringstraßenzone zu besinnen, für die sie international bekannt ist. Wird es vor dem Hintergrund der steten Veränderung vollbracht, diesem großartige Kunstwerk den Respekt zu zollen, den es verdient, so wird es die Strahlkraft bewahren und ein Markenzeichen Wiens für weitere 150 Jahre und noch länger bleiben.
Fußnoten
1 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Band V, 1 und 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 1982.
2 In Paris begann man bereits ab 1675 die Stadtmauern zu demolieren und zuerst durch Promenaden zu ersetzen. In einem weiteren Schritt wurden die Boulevards als Straßen angelegt.
3 Der Wettbewerb betraf die Verbauung des Glacis, wodurch man von einer „Erweiterung der inneren Stadt Wien“ sprach, bei der die Ringstraße, als städtebauliches Rückgrat, ein integraler Bestandteil war.
4 Das kaiserliche Handschreiben, das beim Justizpalastbrand 1927 zerstört wurde, ist durch Abschriften und den Abdruck in der Wiener Zeitung vom 25. Dezember 1857 erhalten geblieben.
5 Damit so viele Interessierte vom Wettbewerb erfuhren, schaltete man die Ausschreibung gleich drei Mal in der offiziellen Staatszeitung, der Wiener Zeitung, am 31.1.1858, Nr. 25, S. 322-3, am 2.2.1858, Nr. 26, S. 335-6 und am 4.2.1858, Nr. 27, S. 350.
6 Man begann am 28. März 1858 mit den Abbrucharbeiten, die durch Sprengungen und Nachtarbeiten beharrlich vorangetrieben wurden. Die Stadtmauer wurde in Abschnitten bis 1875 beinahe vollständig demoliert. Heute befinden sich bei der Mölker- und der Dominikanerbastei Reste dieser aus dem 17. Jahrhundert stammenden Befestigungsanlage.
7 Der dänische Architekt Theophil Hansen übersiedelte aus Athen nach Wien und wurde nicht nur der Schwiegersohn, sondern auch Partner von Ludwig Förster. Er legte nicht nur zahlreiche Projekte vor, sondern konnte neben der Börse, dem Haus der Gesellschaft der Musikfreunde, der Akademie der bildenden Künste und dem Reichsratsgebäude (Parlament) u. a. auch die Palais Todesco, Erzherzog Wilhelm, Epstein und Ephrussi errichten.
8 Siehe: http://www.architektenlexikon.at.
9 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Paradeplatzverbauung des Wiener Stadtbauamtes, Plan- und Schriftenkammer, 3.2.1.1. P1. 1389.
10 Das Rathaus wurde nach Plänen von Friedrich Schmidt 1872-1883 errichtet, die Universität von Heinrich Ferstel 1873-1884, das Burgtheater von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer 1880-1886 sowie das Reichsratsgebäude (Parlament) von Theophil Hansen 1874-1883.
Zur Person
Dr. Mag. Dipl. Ing. Harald R. Stühlinger ist als Dozent am Lehrstuhl Geschichte des Städtebaus an der ETH-Zürich tätig. Er studierte Architektur und Kunstgeschichte in Wien und Venedig, veröffentlicht seitdem im Bereich der Architektur-, Stadtbau- und Fotografiegeschichte, kuratierte mehrere Ausstellungen zu diesen Themen und unterrichtet an der Universität St. Gallen.