Die Seele des Hauses
Zu ebener Erde. Das Erdgeschoß ist die Seele des Hauses, und diese wurde viele Jahre vernachlässigt. Wie wertvoll es ist, wird aber jetzt immer mehr Eigentümern von Gründerzeithäusern bewusst.
Beitrag von Herbst 2017
MAG. WALTER SENK
Zu ebener Erde. Das Erdgeschoß ist die Seele des Hauses, und diese wurde viele Jahre vernachlässigt. Wie wertvoll es ist, wird aber jetzt immer mehr Eigentümern von Gründerzeithäusern bewusst.
Wir leben im Erdgeschoß. Wer nicht gerade zu Hause, also unterwegs ist, der ist auf der Straße und bewegt sich daher im Erdgeschoß. Hier laufen Wohnen und Arbeiten zusammen, hier verbinden sich die verschiedenen Ebenen einer Stadt, privat, öffentlich und halböffentlich – das Leben findet ebenerdig statt. Wie wichtig das Erdgeschoß für das Haus und auch für das gesamte Grätzel und das Stadtleben ist, war bereits zur Gründerzeit bekannt. Daher hat man sich in der Wiener Bauordnung von 1859 explizit mit diesem Thema befasst, der Paragraph 30 lässt keine Missverständnisse in seiner Kürze und Klarheit aufkommen: Erdgeschoße sollen so gestaltet sein, dass Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen des Bauführers ermöglicht werden, jedoch Wohnflächen nur unter besonderen Bedingungen zulässig sind. Punkt.
FÜR DAS LEBEN UNERLÄSSLICH
Der ebenerdige Raum war für Leben des 19. Jahrhunderts unerlässlich, denn hier wurde produziert, hier wurde Handel betrieben, gekauft und verkauft. Dank ihrer Konzeption und der unterschiedlichen Grundrisse fand sich für jeden Anspruch der geeignete Raum: vom Handwerksbetrieb über den Gemüsehändler bis zum Gasthaus. Die untersten Zonen waren zumeist barrierefrei. Auch wenn das damals in diesem Sinne kein Thema war, ließen sich Waren relativ leicht und problemlos anliefern, was für die Zeit schlichtweg ein Muss war. Und noch etwas zeichnete sie besonders aus: Eine wesentliche Facette des Parterres in den Wiener Gründerzeithäusern ist die große Raumhöhe, die eine weitere Nutzungsoffenheit bringt – hier ließ sich faktisch alles unterbringen; Regale konnten bis zur Decke reichen und Holzkonstruktionen brachten noch ein paar Quadratmeter mehr Fläche.
Aber die Zeiten änderten sich. Die Erdgeschoßzonen wurden vom immer stärker werdenden, ruhenden und fließenden Pkw-Verkehr in Mitleidenschaft gezogen, eingekauft wurde nicht mehr nebenan, sondern im Supermarkt. Irgendwann fand das Leben zu Hause vor dem Fernseher statt und nicht mehr auf der Straße. Damit verloren die Erdgeschoße ihre Bedeutung und in weiterer Folge ihren Glanz. Richtig degradiert wurden sie, als aus den großzügigen Erdgeschoßzonen vielfach Garagen entstanden.
RÜCKKEHR DER EINMALIGKEIT
Mittlerweile wird den Erdgeschoßen wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das hat auch damit zu tun, dass der Eindruck des Entrèes auf den Gesamteindruck des Hauses letztendlich bis in das Dachgeschoß reicht. Denn in Gebäuden mit unattraktiven oder gar verwahrlosten Eingangsbereichen werden sich keine (teuren) Dachgeschoßwohnungen vermieten lassen.
Zahlreiche Eigentümer von Zinshäusern setzen daher immer wieder Initiativen, diese oft unterschätzten Bereiche ihrer Immobilie zu revitalisieren – und je mehr Eigentümer sich zusammenfinden, desto größer ist die Chance der Veränderung. Wenn die Kleinteiligkeit einzelner für sich abgeschotteter Erdgeschoße in einem einzelnen Haus einem Gesamtkonzept weicht, dann bieten sich mehr Möglichkeiten. Nicht nur für die Häuser selbst, sondern für das Erscheinungsbild des gesamten Grätzels. Urbanität und Leben lassen sich zwar von der Stadtpolitik steuern, doch oftmals ergibt sich erst aus einem neuen und interessanten Konzept ein „Kick“. So waren es unter anderem Gastronomie und Galerien, die ein junges urbanes Publikum ins Freihausviertel auf der Wieden zogen und diese einst unbeliebte Gegend attraktiv machten. Ähnliche war die Situation auch am Brunnenmarkt. Geht man mit offenen Augen durch belebte Straßen, in denen die Erdgeschoße ihr wahres Antlitz zeigen und wofür sie tatsächlich einmal gedacht waren, so ist man von der Vielfalt mehr als erstaunt. In immer mehr Straßen entdeckt man wieder die wahre Pracht der ebenerdigen Räume – doch gibt es in Wien weiterhin noch viel zu tun.
GASTRONOMIE, HANDEL & CO.
Wer bei der Belebung als erstes an Gastronomie und Handel denkt, der liegt schon einmal richtig, allerdings sind lediglich 20 Prozent der Erdgeschoßflächen für Handel und Gastronomie nutzbar. Das hat aber nichts mit ihrer Konstruktion zu tun, sondern viel mehr mit der Kaufkraft der Menschen in der Stadt. In jedem Erdgeschoß Lokale oder Einzelhändler anzusiedeln, ist rein rechnerisch nicht möglich.
Die Urbanauts.at bringen ein ganz anderes Konzept: Aus ehemaligen Geschäftslokalen machen sie Hotelzimmer für Abenteurer. Die Street Lofts bewahren die Geschichte alter Geschäfte, Werkstätten und Ateliers. Leerstehende Gassenlokale werden zu Suiten umgebaut und als dezentrales Hotel zusammengefasst. „Das ist Stadterleben ohne Umweg durch die Hotellobby“, meinen die Betreiber, denn „auf der Straße zeigt die Stadt ihr wahres Gesicht“. Wie sich ein langfristiges Zusammenspiel zwischen dem Erdgeschoß und dem öffentlichen Raum in der Praxis darstellen könnte, wird sich erst in den kommenden Jahren weisen, aber es tauchen immer mehr neue Ideen auf.
VIELFÄLTIGE MÖGLICHKEITEN
Geschäftslokale sind zum Beispiel auch für Ärzte interessant, da ein Großteil dieser Immobilien barrierefrei sind. Vor allem müss(t)en die Praxen von Ärzten seit dem 1.1.2016 laut Gesetz (Anm. d. Red.: Das am 1.1.2006 erlassene Gesetz sah es eine Übergangsfrist von zehn Jahren vor) barrierefrei betretbar sein. Immer mehr Ärzte erkennen die Vorteile des Parterres und eröffnen hier ihre Ordinationen. Das Thema Gesundheit könnte überhaupt ein wesentlicher neuer Aspekt für Erdgeschoße sein. Betrachtet man die weitere Entwicklung und Überalterung der Gesellschaft in den Staaten Europas, so stellt sich die Frage der dezentralen Versorgung und Pflege von älteren Menschen in kleinen barrierefreien Einheiten.
Schon längst hat auch die Kreativszene die Vorteile des ebenerdigen Arbeitsplatzes erkannt, der dank seiner Konzeption den Vorteil der Individualität birgt. Zudem hält auch das produzierende Gewerbe wieder verstärkt Einzug. Neue Technologien werden hier ebenso angesprochen, wie klassische emissionsfreie Produzenten. Einer Schneiderei bieten sich hier genauso Möglichkeiten wie einer 3D-Druckerei, die mit der neuesten Technologie ausgestattet ist.
ACHTUNG VOR DER LETZTEN MEILE
Auch der Handel braucht Flächen. Für Pop-up-Stores unterschiedlicher Größen bieten die Erdgeschoßflächen genau die Individualität, die Kunden zusätzlich anzieht. Aber auch beim Großhandel wirft man immer begehrlichere Blicke auf die Parterrezonen. Weniger für den Vertrieb, sondern mehr für die Anlieferung. Durch den steigenden Internethandel nehmen Lagerkapazitäten für den Handel im innerstädtischen Bereich eine immer wichtigere Stellung ein, um die berühmte „Last Mile“ zum Kunden logistisch zu überbrücken. Dabei ist allerdings auch Vorsicht geboten, denn sonst erfahren die Erdgeschoßzonen dasselbe Schicksal, das sie schon einmal hatten – nur sind es dann Lager statt Garagen. Daher wäre ein durchgehendes Grätzelmanagement eine mehr als sinnvolle Sache, um einen gemeinsamen ausgewogenen Mix zu schaffen. So wie es bereits vor 150 Jahren die Bauordnung vorsah: Erdgeschoße sollten so gestaltet sein, dass im Erdgeschoß Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen des Bauführers ermöglicht werden.
Zur Person
Mag. Walter Senk ist unabhängiger Journalist mit dem Schwerpunkt „Immobilien“ und schreibt für zahlreiche Medien. Außerdem konzipiert er Magazine und entwickelt und betreut Kundenzeitschriften für diverse Unternehmen. Mit seiner Webseite www.immobilien-redaktion.at bringt er die breite und umfassende Welt der Immobilien auf interessante Weise