Die Erfindung des modernen Wiener Zinshauses. Otto Wagner und die Folgen.
Gastbeitrag von Dr. Andreas Nierhaus
Otto Wagner zählt nicht nur zu den wichtigsten Wegbereitern der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts, er gab auch dem Wiener Zinshaus eine neue, unverwechselbare Gestalt – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart.
Beitrag vom Herbst 2020
Auf einer Visitenkarte, die der berühmte Architekt und Professor an der Wiener Akademie der bildenden Künste, Otto Wagner (1841-1918), anlässlich seines 70. Geburtstags im Jahr 1911 drucken ließ, sind stolz die wichtigsten Bauten seines Schaffens vermerkt. An die erste Stelle setzte Wagner jedoch nicht etwa Hauptwerke, wie die Kirche am Steinhof oder die Postsparkasse, sondern jene 50 Zinshäuser, die er während seines beinahe fünfzigjährigen Schaffens errichtet hatte. Diese Reihung zeigt an, dass für Wagner die herkömmliche Rangfolge innerhalb der Baukunst, mit Sakralbauten an der Spitze und den Nutzbauten am unteren Ende der Skala, ihre Bedeutung verloren hat. Zugleich definiert er die Bereitstellung von qualitätsvollem großstädtischem Wohnraum in Form des Zinshauses als das bedeutendste Aufgabengebiet des modernen Architekten – ein Anspruch, der bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Wie ein solches modernes Wiener Zinshaus aussehen sollte, demonstrierte Wagner im selben Jahr 1911 mit dem Bau seines eigenen Wohnhauses in der Döblergasse 4 im 7. Bezirk. Von der Fassade ist jegliches traditionelle Ornament verschwunden: die Fenster sind scharfkantig in den glatten Verputz eingeschnitten, den einzigen farbigen Schmuck bilden dunkelblaue Glasplättchen, die wie ein abstrahierter textiler Wandbehang die Wohngeschoße zusammenfassen und die Beletage mit der Wohnung des Hausherren hervorheben. Der gerillte Sockel und das weit vorkragende Kranzgesims wahren bei aller Modernität die etablierten klassischen Proportionen des Wiener Zins-hauses. Das Haus in der Döblergasse, in dem sich Otto Wagner seine letzte Wohnung einrichtete, bildete den Abschluss einer jahrzehntelangen Suche nach der perfekten Form für das Wiener Zinshaus – jener „Bauaufgabe“, die auch zur ökonomischen Existenz Wagners entscheidend beitrug, verdankte er doch einen Gutteil seines beträchtlichen Vermögens dem ertragreichen Handel mit von ihm selbst erbauten Zinshäusern.
Wagner, der sich früh für städtebauliche Fragen interes-sierte, erkannte im Zinshaus das zentrale Element der modernen Großstadt: Es war in seinen Augen die praktikabelste Wohnform für den Großteil der Bevölkerung, bildete zugleich als Kapitalanlage einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor und trug nicht zuletzt durch seine Fassade mehr als alle anderen Bauten zum Bild der rasant wachsenden Metropolen bei. Das Ziel war demnach ein wohnliches, ertragreiches und zugleich ästhetisch ansprechend gestaltetes Gebäude. Wagner behielt dabei stets das größere Ganze der Stadt im Blick und behandelte die von ihm entworfenen Zinshäuser nie als Solitärbauten, sondern stets im Kontext des gesamten Straßenbildes. Schon die ersten bekannten Zinshäuser, die er 1864 in der Harmoniegasse am Alsergrund realisieren konnte – damals noch nicht als sein eigener Bauherr, sondern im Auftrag der jüdischen Investoren Leopold Blühdorn und Max Weiss – zeugen von dem Bemühen, dem Straßenzug durch zurückhaltende Gestaltung und präzise gesetzte Akzente ein einheitliches Bild zu geben.
Die Häuser der Harmoniegasse und das gleichnamige Theater im 9. Bezirk waren die ersten bekannten Zinshäuser, die der damals 23-jährige Otto Wagner errichtete
Dreißig Jahre und etwa ebenso viele Zinshäuser später kritisierte er in seiner Schrift „Moderne Architektur“ von 1896 voller Furor „das Schwindelhafte von Lügen Strotzende, an Potemkin’sche Dörfer Erinnernde“ der neuen Miethäuser an der Ringstraße und stellt dem die Forderung nach einheitlicher Gestaltung, ja „Uniformität“ entgegen. Der Personenaufzug, so Wagner, habe den Wert der Beletage relativiert und die Geschoße untereinander gleichwertig gemacht. Nicht mehr geborgte Palastfassaden, sondern eine Gliederung, die der inneren Struktur und der realen Nutzung entspricht, sind für Wagner das Gebot der Stunde. Eine Gruppe von drei Zinshäusern, die seine Forderungen exemplarisch umsetzten, konnte der Architekt wenige Jahre später, 1898/99, in Eigenregie an der Wienzeile im 6. Bezirk errichten, die damals in ihrem innerstädtischen Abschnitt – Ideen Wagners aus den 1870er-Jahren folgend – als Prachtboulevard ausgebaut wurde.
Köstlergasse 1 / Linke Wienzeile 40
Das spektakuläre „Majolikahaus“ Linke Wienzeile 40 erhielt eine für Wien neuartige Verkleidung mit glasierten Keramikplatten, die einen auffälligen secessionistischen Blütenvorhang über die Fassade breiteten und damit die Möglichkeit zur permanenten und leicht zu reinigenden polychromen Gestaltung demonstrierten. Das anschließende Eckhaus Köstlergasse 1 ist im Gegensatz dazu mit zartem vergoldetem Stuckdekor versehen, der seinen Schwerpunkt nicht in der Beletage, sondern im obersten Stockwerk hat, wo große Medaillons mit Frauenköpfen nach Entwürfen von Koloman Moser zwischen den Fenstern sitzen. Im Kontrast zum ornamentalen Reichtum der Häuser entlang des geplanten Prachtboulevards fügt sich das Haus Köstlergasse 3, in dem sich Wagner sein „Absteigquartier“ mit der berühmten gläsernen Badewanne einrichtete, mit einer monochromen Stuckfassade bescheiden in den Straßenzug ein. Wagners Häuser an der Wienzeile machten auf die Zeitgenossen größten Eindruck und sie standen auch im maximalen Kontrast zur etablierten Wiener Wohnhausarchitektur, wenn man sie etwa mit dem unmittelbar benachbarten, 1897 von Franz von Neumann erbauten (Zins-)Palais Leon von Wernburg (Linke Wienzeile 36) vergleicht.
Nicht nur die Zinshäuser Otto Wagners, auch ihre Einrichtung war hochmodern,
wie die gläserne Badewanne im „Absteigquartier“ des Architekten beweist
Die reich geschmückte neobarocke Fassade, das von mächtigen Hermen gerahmte Portal, die an die kaiserliche Hofburg gemahnende (heute längst verschwundene) Kuppel – all das waren Attribute einer auf äußerliche Repräsentation ausgelegten Architektur, die vor Wagners Augen keine Gnade fand. Wagners Häuser an der Wienzeile waren eine Sensation, versetzten das Publikum aufgrund ihrer Neuartigkeit in Staunen und sorgten für ebenso viel Ablehnung wie Zustimmung. Begeisterte Aufnahme fanden Wagners Anregungen zunächst vor allem im Kreis seiner Schüler an der Akademie der bildenden Künste, die im ersten Jahr ihres Studiums stets „ein einfaches Wiener Zinshaus“ zu entwerfen hatten. Vor allem Architekten aus dem Kreis um Otto Wagner waren es dann auch, die in den Jahren um 1900 das Wiener Zinshaus von Grund auf neu dachten: die Häuser Portois & Fix (Ungargasse 59-61, 1899/1900) und Artaria (Kohlmarkt 9, 1900-1902) von Max Fabiani oder das Zacherlhaus von Josef Plečnik (Brand-stätte 6, 1903-05, Abb. 5) waren Meilensteine der modernen Wohnhausarchitektur. Erst auf dieser Basis konnte Adolf Loos wenige Jahre später mit seinem „Haus am Michaelerplatz“ (Michaelerplatz 3, 1909-12) zu einer radikalen Kritik des Wiener Zinshauses ansetzen, die zugleich eine Antithese zum Historismus der Gründerzeit bildete.
Die moderne Großstadt ist für Otto Wagner eine Stadt der Zinshäuser, in denen die Menschen lieber als Nummer in der Anonymität verschwinden,
als im Einfamilienhaus ständig von ihren Nachbarn beobachtet und gestört werden
Wie sich Otto Wagner eine von modernen Zinshäusern bestimmte Metropole der Zukunft vorstellte, zeigte er 1911 in seiner Illustration zu seiner Studie „Die Großstadt“. Aus der Vogelperspektive fällt dort der Blick auf das monumentale Zentrum des künftigen XXII. Bezirkes von Wien, das von einheitlich gestalteten, monoton wirkenden Straßenzügen mit großen Zinshausblöcken umgeben ist. Wagner erweist sich hier in Bild und Text noch einmal als begeisterter Großstädter, der das „gesunde, schöne, bequeme und billige“ Zinshaus gegenüber der damals breit diskutierten Gartenstadt als einzig sinnvolle Wohnform der Zukunft verteidigt: „Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, in der Menge als ‚Nummer‘ zu verschwinden, ist bedeutend größer als die Anzahl jener, welche täglich einen ‚guten Morgen‘ oder ‚wie haben Sie geschlafen‘ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzelwohnhause hören will.“ Zugleich wendet er sich entschieden gegen die Spekulation und fordert im Gegenzug ein Enteignungsgesetz, das die Gemeinde in den Stand versetzt, brach liegende Grundstücke rechtzeitig aufzukaufen und erst im Rahmen einer planmäßigen Entwicklung zu veräußern. Mit dem Gewinn sollten dann öffentliche Bauten und soziale Einrichtungen finanziert werden. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass es just die Schüler des großen Zinshausarchitekten und Immobilienbesitzers Otto Wagners waren, die wie keine zweite Gruppe von Architekten das Gesicht des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit prägten. Ihre solide Ausbildung im Entwurf von Wiener Zinshäusern ebenso wie von monumentalen palastartigen Anlagen war offenbar perfekt dazu geeignet, um einem weltweit einzigartigen sozialen Experiment die adäquate städtebauliche und architektonische Form zu geben. Wenn auch unter der sozialdemokratischen Stadtverwaltung der Bau privater Wohnhäusern aufgrund der steuerlichen Belastung fast vollkommen zum Erliegen kam, so wirkten die Ideen und Errungenschaften Wagners in den berühmten „Superblocks“ und „Volkswohnungspalästen“ wie dem Karl Marx-Hof in veränderter Form weiter. Unter den heutigen geänderten Bedingungen einer stark wachsenden Stadt mit ihrem großen Bedarf an hochwertigem Wohnraum wären es Otto Wagners systematische Überlegungen zum Wiener Zinshaus wert, einer neuen urbanen Wohnkultur den Weg zu ebnen, die von der einzelnen Wohnung ausgehend stets das große und vielstimmige Ganze der Stadt im Blick behält.
© Heribert Corn
Zur Person
Dr. Andreas Nierhaus ist Kunsthistoriker und Kurator der Architektursammlung des Wien Museums und arbeitet derzeit an einem Buch zur Geschichte des Wiener Zinshauses.